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Blogbeitrag

Welches Grundrecht?

Social Media ist ein virtueller Raum, in dem jeden Tag tausende Menschen zu Schaden kommen, durch Hass und Hetze gegen viele, durch Cybermobbing, Cybergrooming und Cyberstalking gegen einzelne. Die Grenze zu Straftatbeständen ist dabei oft fließend, die Verfolgung von Straftaten fast immer schwer. Ein Überblick zum Thema Grundrechte auf Social-Media-Plattformen.

Die kürzlich vorgelegte Studie mit dem Titel „Lauter Hass – leiser Rückzug. Wie Hass im Netz den demokratischen Diskurs bedroht“ (kompetenznetzwerk-hass-im-netz.de) zeigt einmal mehr auf, was wir längst alle wissen: Das Internet, vertreten durch sogenannte Social Media und die Plattformen, die sie vertreiben, ist ein virtueller Raum, in dem jeden Tag tausende Menschen zu Schaden kommen, durch Hass und Hetze gegen viele, durch Cybermobbing, Cybergrooming und Cyberstalking gegen einzelne. Die Grenze zu Straftatbeständen ist dabei oft fließend, die Verfolgung von Straftaten fast immer schwer — nicht jede hat die Ausdauer und die Mittel einer Renate Künast, diese durchzusetzen (sueddeutsche.de), und wäre es doch so, dann würde sich die Strafverfolgung angesichts der schieren Zahl der Straftaten endlos hinziehen. Keine deutsche Regierung würde lange im Amt bleiben, würden vergleichbare Zustände in der Realwelt herrschen.

Mittlerweile scheint sich in der Öffentlichkeit die Einsicht zu verbreiten, dass es so nicht weitergehen darf. Viele hoffen auf die Wirkung von NetzDG (gesetze-im-internet.de) und Digital Services Act (bundesregierung.de) der EU, nach denen die Betreiber der sog. Social Media verpflichtet werden, strafbare Inhalte, die sie verbreiten, nach erfolgter Anzeige binnen kurzer Frist von ihren Plattformen zu löschen. Dass dies jedoch nicht ausreicht, um Opfer zu schützen, belegen zahlreiche Beispiele aus der noch jungen Geschichte der Plattformen:

Facebooks Rolle in der Vertreibung der Rohinya (reuters.comundocs.orgsueddeutsche.de); 

Facebooks Live-Übertragung des Christchurch-Attentats und die Unfähigkeit, die Videos zu löschen (nbcnews.com);

über Whatsapp verabredete Lynchmobs in Indien (stuttgarter-zeitung.de).

Diese Verbrechen sind Jahre her, müssen aber dennoch als Testfälle für aktuelle Gesetzesanpassungen gesehen werden: Wenn die Verletzung der Rechte Dritter, bis hin zu deren elementaren Menschenrechten, durch die Verbreitung von Inhalten bereits eingetreten ist, wie kann sie durch Zurückziehen oder Löschen dieser Inhalte geheilt werden? Würde ein neues Verkehrsmittel gesetzlich zugelassen, bei dem Lenkung oder Bremsen immer erst nach einer Kollision betätigt werden können? Sollte der Handel von der Verpflichtung, sich der Herkunft der ihnen zugesteckten und von ihnen verkauften Ware zu vergewissern, befreit werden, sofern sie versprechen, zu versuchen, Hehlerware nach Anzeige binnen eines Tages zurückzukaufen und zurückzugegeben?

Freie Meinungsäußerung und Verbreitung der eigenen Meinung sind in Deutschland Grundrecht. So steht es in Artikel 5, Absatz 1 des deutschen Grundgesetzes:

„Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.“

Ein Grundrecht auf unbeschränkte Verbreitung der eigenen Meinung durch Dritte gibt es indes nicht. Vielmehr unterliegen die klassischen Verbreiter von Meinungen, Presse und Rundfunk, gesetzlichen Auflagen, wie sie in den Landespressegesetzen und im Rundfunkstaatsvertrag (2020 abgelöst vom Medienstaatsvertrag) festgeschrieben sind. Denn es gilt genauso der Absatz 2 des Artikel 5 GG:

„Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.“

Die Missachtung dieser Auflagen ist mit Sanktionen belegt mit der Konsequenz, dass die Verbreiter die Meinungen vor ihrer Verbreitung prüfen. Die Plattformen tun dies jedoch nicht. Wieso nicht?

Es ist anzuerkennen, dass es technisch unmöglich ist, strafbare Inhalte mit hinreichender Zuverlässigkeit automatisch zu identifizieren und zurückzuweisen. Wäre also schon die Verbreitung und nicht erst die unterlassene Löschung auf Aufforderung strafbar und mit hinreichend, d.h. abschreckend hohen Strafen belegt, würde das aktuelle Geschäftsmodell der Plattformbetreiber unrentabel und ihre Dienste würden eingestellt. Das wäre freilich kein tragischer Einzelfall: Wenn ein Produkt unter gravierenden, systematischen Sicherheitsmängeln leidet, wird sein Vertrieb zumindest in Deutschland schwierig – das schuldet der Staat seinem (Konsum)Volk. Doch durch Gesetzgebung das Verschwinden der Plattformen zu riskieren? Undenkbar! Aber warum eigentlich?

Die Antwort könnte erschreckend ausfallen: Weil es dafür zu spät ist. Die Plattformen haben die Jahre, in denen sie weitgehend unreguliert agieren durften, genutzt, um ihre Kundschaft abhängig zu machen: Es fällt schwer, auf die einmal erlebte persönliche Reichweite und die damit verbundenen Chancen der Selbstwirksamkeit zu verzichten. Dies gilt auch und insbesondere für diejenigen, die bei offenkundigen Fehlentwicklungen eigentlich regulierend eingreifen sollten: Selbst wenn dem Eigentümer und Lenker der Plattform X Antisemitismus vorgeworfen wird (tagesschau.de), bleibt das Gros der politisch Aktiven, übrigens genau wie Gros der ansonsten eher achtsam auftretenden öffentlich-rechtlichen Einrichtungen, lieber bei dessen Geschäftsmodell als einen Reichweitenverlust zu riskieren. Begründungen dafür gibt es viele, aber keine ist mit einem Bild von Freiheit und Unabhängigkeit vereinbar, das diese Meinungsbildner eigentlich abgeben sollten.

Das reale Grundrecht auf freie Meinungsäußerung scheint mittlerweile mit der Fiktion eines Grundrechts auf ungefilterte Verbreitung der eigenen Meinung durch Dritte verschmolzen. Die praktische Folge ist eine Bestandsgarantie für die Plattformen. Was auch immer sie koste. 

Diesen Beitrag hat Prof. Dr. Friedrich Steimann, Informatiker und Mitglied des Präsidiums, beigesteuert. Er erschien zuerst in unserem Newsletter GI-Radar. Alle Ausgaben gibt es hier zum Nachlesen.

Frau im grauen Langarmshirt schaut auf ihr Smartphone.
Die Social-Media-Plattformen haben die Jahre, in denen sie weitgehend unreguliert agieren durften, genutzt, um ihre Kundschaft abhängig zu machen. Foto © chadmadde/unsplash