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BlogbeitragInformatik und Gesellschaft

Politik in den Social Media – Herausforderung für die Webarchivierung

In den USA beobachten wir dieser Tage eine neue Qualität der politischen Debatte über Social Media. Präsident Donald Trump zieht gegen die chinesische Videoplattform Tiktok zu Felde, die insbesondere bei der jungen Generation Z weltweit beliebt ist. Tiktok stelle ein Spionagewerkzeug der chinesischen Regierung dar und solle deshalb für den amerikanischen Markt verboten werden, so argumentiert das Weiße Haus. Einzige noch mögliche Alternative sei eine rasche Übernahme der US-amerikanischen Aktivitäten von Tiktok durch ein amerikanisches Unternehmen wie beispielsweise Microsoft. Diese Auseinandersetzung mit noch offenem Ausgang zeigt deutlich, wie relevant Social Media längst für die Politik geworden sind.

Dabei zählt das 2016 gegründete Tiktok trotz seiner Bedeutung etwa als Medium der „Black Lives Matter“-Bewegung längst noch nicht zu den etablierten digitalen Arenen „großer Politik“. Die länger etablierten Konkurrenten Facebook und Twitter hingegen sind aus der politischen Kommunikation und dem politischen Diskurs auf nationaler wie internationaler Ebene heute kaum noch wegzudenken. Kurzum: Social Media Plattformen beeinflussen aktiv politisches Geschehen und sind selber Gegenstand von politischen Auseinandersetzungen. Zugleich sind ihre Inhalte wie alle Webressourcen höchstgradig fragil. Es ist daher nötig und wichtig, sich Gedanken über die Archivierung von Social Media-Inhalten zu machen.

Die diversen politischen Akteur*innen in Kommunen, Ländern, dem Bund und auf europäischer Ebene produzieren tagtäglich eine Unmenge an textlichen und bildlichen Hinterlassenschaften auf den unterschiedlichen Social Media Plattformen. All diese Posts, Tweets, Kommentare, Fotos und Videos sind zumindest potentiell von historischem Wert. Sie können als Quellen für zukünftige Forschung und Debatten wertvoll und wichtig sein. In zuvor nicht bekannter Form wird etwa der Alltag von Politiker*innen durch ihre Aktivitäten auf Facebook, Twitter und Co, illustriert.

Die öffentliche Kommunikation in den Social Media (ohne die privaten Interaktionen in den integrierten Messengern, in teilöffentlichen Gruppen usw.) ist zwar technisch relativ gut greifbar, aber dennoch als Archivgut eine Herausforderung. Denn wie genau beispielsweise Facebook im Jahr 2020 „funktioniert“, sprich welche Inhalte es einzelnen Nutzer*innen wann und in welcher Reihenfolge präsentiert, kann kaum zutreffend rekonstruiert werden. Facebooks komplexe Algorithmen, die auf Basis des individuellen Nutzer*innenverhaltens reagieren, sind dafür viel zu intransparent. Sie folgen bekanntlich dem grundlegenden Auftrag, die präsentierten Inhalte möglichst zutreffend an die Vorlieben, Interessen und Gewohnheiten der einzelnen User*innen anzupassen. Folglich werden Beiträge, Werbung, Veranstaltungshinweise usw. den Nutzer*innen ganz individuell dargestellt. Jede und Jeder erlebt und nutzt daher gewissermaßen ein personalisiertes Facebook. Bei der Archivierung dieser Plattform ist es geradezu unmöglich, ihre komplexen sozio-technischen Mechanismen und damit die individuelle Anmutung der Seite in realistischer Weise abzubilden bzw. zu einem späteren Zeitpunkt zu reproduzieren. Der jeweilige dynamisch generierte Kontext einzelner auf Facebook geposteter Textfragmente geht somit bei der Archivierung größtenteils verloren. Um überhaupt einen plastischen Eindruck vom heutigen Facebook zu bewahren, wird das sogenannte „Session Filming“ eingesetzt. Hierfür werden Testpersonen beim Surfen auf Facebook gefilmt, um ihr individuelles Erlebnis festzuhalten.

Im Unterschied zu Facebook und Twitter sind neuere Social Media wie Tiktok, Jodel und selbst Instagram bislang noch kaum in den Fokus der Webarchivierung gerückt. Ganz zu schweigen von beliebten Messengerdiensten wie WhatsApp und Telegram: Sie werden zwar politisch immer relevanter, aber eine geeignete Archivierungsstrategie fehlt hierfür noch vollkommen. All die Wahlkampagnen und Beispiele politischer Kommunikation, die auf diesen Plattformen und Onlinediensten längst praktiziert wurden und tagtäglich werden, drohen deshalb als historische Zeugnisse vollkommen verloren zu gehen. Ein Überlieferungszufall kommt allenfalls zur Hilfe, wenn beispielsweise Pressemedien die politischen Debatten auf diesen Plattformen thematisieren, daraus zitieren und vielleicht sogar mit ein paar Screenshots illustrieren. Das ist tröstlich, aber beileibe keine befriedigende Lösung. Die Webarchivierung hinkt den neuen digitalen Technologien naturgemäß stets hinterher, und angesichts der bemerkenswert kurzen Innovationszyklen im Webbereich kämpft sie meist mit erheblicher Verspätung gegen den vollständigen Verlust der digitalen Vergangenheit an. Völlig zurecht werden die Anfangsjahre des World Wide Web heute als „Dark Ages“, also dunkle und vergessene Zeiten der Internethistorie bezeichnet. Die kommenden Jahre werden zeigen müssen, wieviel von den Unmengen an politischer Kommunikation, die tagtäglich in den verschiedenen Social Media produziert werden, in Archiven überhaupt gesichert und für die künftige Geschichtsschreibung zugänglich gemacht werden kann.

Jens Crueger (jens@crueger.info), ist Sprecher der Fachgruppe Langzeitarchivierung und Emulation der Gesellschaft für Informatik (GI). 

 

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