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Blogbeitrag

Open Educational Resources (OER) für mehr Chancengerechtigkeit beim Lernen?

Der freie Zugang zu Bildung ermöglicht Chancengerechtigkeit, Inklusion, Bildung für alle und die Förderung eines lebenslangen Lernens. Sogenannte Open Educational Resources (OER) - also offene Lern-, Lehr- und Forschungsmaterialien - sollen in Deutschland daher forciert werden. Doch wie steht es um die Qualitätssicherung von OER-Materialien?

Open Educational Resources (OER). Immer häufiger fällt der Begriff OER im Zusammenhang mit (digitalen) Lehr- und Lernmaterialien. Aber was sind OER-Materialien eigentlich genau? Die UNESCO veröffentlicht dazu im Jahre 2019 eine Definition, die das zwischenstaatliche gemeinsame Verständnis von OER zusammenfasst und mittlerweile allgemein anerkannt ist.

„Open Educational Resources (OER) sind Lern-, Lehr- und Forschungsmaterialien, in jedem Format und Medium, die gemeinfrei sind oder urheberrechtlich geschützt und unter einer offenen Lizenz veröffentlicht sind, wodurch kostenloser Zugang, Weiterverwendung, Nutzung zu beliebigen Zwecken, Bearbeitung und Weiterverbreitung durch Andere erlaubt wird.“ (unseco.de)

Zeitliche Entwicklung der OER-Bewegung. Schon 2007 empfiehlt die OECD die Verbreitung von OER. Im gleichen Jahr werden in der von Aktivistinnen und Aktivisten verabschiedeten Kapstadt-Deklaration Lehrende und Lernende dazu aufgerufen, sich der OER-Bewegung anzuschließen (capetowndeclaration.org). Die UNESCO veranstaltet 2012 einen Weltkongress zum Thema Open Educational Resources, in welchem sie die Ziele der Kapstadt-Deklaration aufgreift und weiter ausführt. Das Ergebnis wird in der Pariser Erklärung zusammengefasst. Im Jahre 2015 veröffentlicht die UNESCO einen Leitfaden mit Handlungsempfehlungen und Argumenten, um die Hochschulen und die Politik dazu zu bewegen, OER gezielt in Hochschulen zu verankern. Im September 2017 wird der zweite UNESCO-Weltkongress zu OER durchgeführt, aus welchem der OER-Aktionsplan von Ljubljana mit Handlungsempfehlungen zur Verankerung von OER in der Bildungspolitik und -praxis hervorgeht. Dies verhilft OER zu internationaler Bedeutung (unesco.de).

Meilenstein: UNESCO-Empfehlung zu OER 2019. Bei der UNESCO-Generalkonferenz im November 2019 wird eine zwischenstaatliche Empfehlung zu OER verabschiedet. Diese zeigt auf, dass OER einen wichtigen Beitrag zum Erreichen der Ziele der Agenda Bildung 2030 (chancengerechte und hochwertige Bildung und lebenslanges Lernen) leisten können. Die Mitgliedsstaaten werden dazu aufgerufen, die notwendigen Kapazitäten zur Förderung und Entwicklung zukunftsfähiger Modelle für OER aufzubauen. 

Und was sind die Potenziale und Vorteile von OER? OER ist sowohl für Lernende als auch für Lehrende interessant. Relevante Vorteile sind Chancengerechtigkeit, Inklusion, Bildung für alle und die Förderung eines lebenslangen Lernens. OER-Materialien können von Studierenden bei der eigenständigen Nachbereitung von Lehrveranstaltungen als zusätzliche Informationsquelle genutzt werden. Auch können sie bereits im Vorfeld eines Studiums genutzt werden, um sich einen ersten Überblick zu verschaffen. Da OER für alle Menschen – auch global betrachtet – jederzeit zugänglich sind, haben auch benachteiligte Gruppen (Menschen mit Behinderungen, sozial oder finanziell Benachteiligte) die Möglichkeit, sich kostenlos fort- und weiterzubilden und von qualitativ hochwertigen Bildungsmaterialien zu profitieren (unesco.de). 

Aus Sicht der Lehrenden sind Zeit- und Kostenersparnis klare Vorteile bei der Nutzung von OER. Unter der Voraussetzung eines Einbezugs der Fachcommunity in die fachliche Gestaltung und Verifikation der OER-Materialien, sind Qualitätszuwachs und übergreifende Konsistenz mögliche Nutzenpotenziale. Darüber hinaus werden Kollaborations- und Kooperationsmöglichkeiten zwischen der Lehrenden gefördert.

Gibt es auch Nachteile? Die vorab genannten Nutzenpotenziale basieren darauf, dass die OER-Materialien einem hohen fachlichen und qualitativen Anspruch genügen. Gerade bei der Integration von OER in bestehende akademische Bildungsangebote ist eine konsequente Beteiligung der Fachcommunity unabdingbar.  

Folgerichtig kritisiert 2017 der Verband Bildungsmedien, dass es bei OER „keine erkennbare Qualitätssicherung der Materialien“ gebe (bpb.de). Bereits 2013 hatte sich das European Trade Union Committee for Education (ETUCE), ein Zusammenschluss von Bildungsgewerkschaften in Europa, skeptisch dazu geäußert, dass es keine Prüf- und Zulassungsverfahren für OER gibt. Dies berge die Gefahr, dass die Bildung kommerzialisiert und monopolisiert wird. Außerdem äußerte das ETUCE das Risiko, dass sich wenige Bildungsanbieter mit eigenen privatwirtschaftlichen Interessen durchsetzen könnten und damit die inhaltliche Gestaltung der Bildungsangebote beeinflussen (csee-etuce.org).

Einheitliche Standards für die Qualitätssicherung gibt es bis heute nicht. 

Entwicklung der OER-Bewegung in Deutschland. Auch Deutschland versucht, der UNESCO-Empfehlung von 2019 gerecht zu werden, und so veröffentlicht das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Juli 2022 die erste nationale Strategie für offene Bildungsmaterialien, die die Verbreitung von OER in Deutschland fördern soll (bmbf.de). Drei konkrete Handlungsempfehlungen schreibt sich das BMBF in dieser Strategie selbst vor: (1) Schaffung von Anreizsysteme zur Erstellung und Nutzung von OER, (2) Stärkung einer Kultur der Offenheit, der Kooperation und des Teilens sowie (3) Stärkung des Changemanagements in Bildungsinstitutionen. 

Entwicklung der OER-Bewegung in Deutschland auf Landesebene. Auf Landesebene gibt es eine Vielzahl an Förderkulissen, die den Ausbau sowie die Nutzung von OER vorantreiben und stärken sollen. So fördert beispielsweise das Ministerium für Kultur und Wissenschaften des Landes Nordrhein-Westfalen gemeinsam mit der Digitalen Hochschule NRW (DH.NRW) seit 2020 im Rahmen der Förderlinie „OERContent.nrw“ die Entwicklung von digitalen Lehr- und Lernmaterialien und stellt dafür eine eigene kostenfreie OER-Plattform (ORCA.nrw) bereit (mkw.nrw).

Wo können OER-Materialien gefunden werden? Es gibt eine Vielzahl von Plattformen, auf denen ausschließlich OER-Materialien zu finden sind. Beispiele sind unter anderem Wikimedia Commons, Edutags und OER Commons. Auch viele Suchmaschinen bieten die Möglichkeit, Suchfilter so anzupassen, dass ausschließlich Materialien unter den gewünschten CC-Lizenzen gesucht werden. Ein weiteres Beispiel für eine Plattform, auf der ausschließliche OER-Materialien zu finden sind, ist die oben genannte Plattform ORCA.nrw. 

Förderprojekt WiLMo – Wirtschaftsinformatik Lehr- und Lernmodule. Ein Projekt, welches durch die Förderkulisse „OERContent.nrw“ gefördert wird, ist das Projekt „WiLMo“ (ida.fh-aachen.de). In diesem entwickeln sechs Hochschulen (FH Aachen, FH Bielefeld, Fachhochschule Dortmund, Hochschule Hamm-Lippstadt, TH Köln, Hochschule Niederrhein) unter Konsortialführung der FH Aachen einheitliche digitalen Lehr- und Lernmaterialien im OER-Format für die Kernmodule der Wirtschaftsinformatik. Die hochschulübergreifende fachliche Abstimmung und Qualitätssicherung ist dabei ein zentrales Ziel des Projektes. Dies wird u.a. auch durch einen engen Austausch mit der GI-Fachgruppe Wirtschaftsinformatik an Hochschulen angewandter Wissenschaften gefördert (fg-wi-akwi.gi.de). Außerdem wird die thematische Reduktion auf die zentralen Grundlagenfächer als wichtiger Erfolgsfaktor angesehen, um den Lehrenden den notwendigen Freiraum in der didaktischen Aufbereitung und fachlichen Anreicherung zu lassen. Spätestens Ende September 2024 werden die Inhalte vollständig auf der Plattform ORCA.nrw zu finden sein.  

Wie geht es weiter? Zurzeit werden OER überwiegend durch die Bildungspolitik vorangetrieben. Die Motivation, sich mit OER zu beschäftigen und OER zu erstellen, ist damit hauptsächlich extrinsischen Ursprungs. Ob das ausreicht, um die OER-Bewegung ins Rollen zu bekommen und OER auch über das Ende der zahlreichen Förderkulissen hinaus zu stärken, bleibt abzuwarten. Wichtige Aspekte dabei sind, welcher Nutzen und welche Anreize sich für alle Beteiligten tatsächlich realisieren lassen, und zwar unter Berücksichtigung unterschiedlicher Nutzungsszenarien. Welche Anreize bestehen für die Erstellung und Pflege von OER-Materialien? Werden OER-Materialien von Studierenden als zusätzliche Informationsquelle neben Vorlesungsunterlagen und Lehrbüchern angenommen? Werden OER-Materialien von Lehrenden genutzt und führt dies zu einer Verbesserung der Lehre? 

Fazit und Empfehlung. Aus Sicht der Informatik ist OER sowohl ein methodischer Aspekt der Digitalisierung und Innovation von Lehre als auch aus inhaltlicher Sicht eine interessante Informationsquelle für Lernende und Lehrende. Kritisch sind die Fragen der Qualitätssicherung, der Integration in bestehende Bildungsangebote und der konsequenten Ausgestaltung von Nutzungsszenarien. Dabei wäre zu überlegen, wie sich die einzelnen akademischen Einrichtungen, aber auch die Fachcommunities der GI positionieren wollen.  

Dieser Beitrag wurde von Jacqueline Gottowik, Prof. Dr.-Ing. Christian Czarnecki und Prof. Dr.-Ing. Martin Wolf verfasst. Alle drei arbeiten an der FH Aachen in der Wirtschaftsinformatik und beschäftigen sich in Rahmen eines Forschungsprojekts mit OER. Vielen Dank für diesen ausführlichen Einblick!

Dieser Beitrag erschien in unserem Newsletter GI-Radar, der alle zwei Wochen erscheint und viele weitere spannende Einblicke in die Informatik bietet. Alle Ausgaben gibt es hier zum Nachlesen.

Eine junge Frau in einem dunkelblauen Hemd verbirgt ihr Gesicht hinter einem Stapel Bücher.
Der Zugang zu Lern- und Lehrmaterialien im Studium ist teuer. OER könnten Abhilfe schaffen. (© Siora Photography/Unsplash)