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Blogbeitrag

IK 2023 – Interdisziplinär am Möhnesee

Auf den Spuren Künstlicher Intelligenz und derer, die sie entwickeln: Im März 2023 fanden nach drei digitalen Ausgaben wieder 200 Wissenschaftler*innen aus Informatik und den Kognitionswissenschaften in Günne am Möhnesee zusammen, um sich zu vernetzen, die Grundlagen der anderen Disziplinen zu lernen und gemeinsam aktuelle Forschungsergebnisse zu diskutieren. Maike Klein, Referentin für Gesellschaft und Internationales bei der GI, forscht selbst an dieser Schnittstelle und war mit dabei.

Gerade noch so in den Zug geschafft. Sonntags um 9 Uhr morgens auf eine Konferenz zu fahren, ist für mich eher eine Seltenheit. Aber einiges deutet darauf hin, dass das IK 2023 keine gewöhnliche Konferenz ist. Es gibt kaum Werbung, aber eine eingeschworene Community, die das Interdisziplinäre Kolleg (IK) in Günne am Möhnesee seit Jahrzehnten besucht. Natürlich sind viele mit der Zeit nachgekommen oder ferngeblieben, aber viele von den Alteingesessenen kommen immer noch jedes Jahr.

„Fährst du auch zum IK?“, fragt der Mensch mit dem Poster, der den Platz neben mir gebucht hat. „Ja. Und du?“ „Ist mein achtes Mal. Hab eigentlich viel zu tun, aber ein IK zu verpassen, das geht gar nicht!“ Auf dem Weg nach Hamm erfahre ich vieles darüber, was das IK so besonders macht, von exzellenten Talks und Sessions bis hin zu gemeinsamem Musizieren, Billardspiel, einer holzverkleideten Bar, einem Swimming Pool und natürlich den Wissenschaftler*innen, die dort aufeinandertreffen. Es fühle sich an, als würde man Freunde treffen, jedes Jahr aufs Neue, erzählt mir der Mensch. Auf sein Promotionsthema wurde er damals beim IK aufmerksam.

Mit dem Reisebus nach Günne

Der Reisebus, der uns die letzten Kilometer bis nach Günne fährt, ist voll besetzt mit gut gelaunten Wissenschaftler*innen jeden Alters. Einige haben lange Reisen hinter sich: aus ganz Europa oder Mexiko, USA, Japan. Seit 1997 findet das IK in einem wabenförmigen Haus der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung (KAB) in Günne am Möhnesee statt, eine Begegnungsstätte für die Region, in der die Zeit ein wenig langsamer zu laufen scheint als in der realen Welt. Angefangen hat es in Günne aber schon Mitte der 1980er-Jahre mit der KI-Frühjahrsschule (KIFS), erzählt Christine Harms, die das IK seit dem Anfang organisiert. Mitten in der vollgestopften Lobby organisiert sie die Ankunft der 200 Teilnehmenden, endlich wieder seit 2019. Es ist ihr anzusehen, dass es ihr genauso viel Freude macht wie am ersten Tag. Eigentlich alles sei hier geblieben wie es war, erzählen die erfahrenen Teilnehmenden, nur dass es inzwischen WLAN gebe.

Rainer Malaka, Professor für Digitale Medien an der Universität Bremen, leitet den Arbeitskreis Interdisziplinäres Kolleg, der am GI-Fachbereich Künstliche Intelligenz (FBKI) angegliedert ist. 2001 war er zum ersten Mal dabei, als Lektor für einen Kurs über Neuronale Netze: „Das IK hat in mehr als 20 Jahren wichtige Beiträge für die deutsche KI-Community geleistet. Durch Kurse und Weiterbildung und durch die Inspiration in dem interdisziplinären Umfeld wurden wissenschaftliche Karrieren geprägt und zahlreiche Projektideen geboren.“

Die Vielfalt der (computergestützten) Kognitionswissenschaften

Das diesjährige Thema „Dynamics of Experience – Minds, Bodies, and Things“ vereint meine eigene Projektarbeit bei der GI (KI-Camp, KI-Hub Kunststoffverpackungen) mit meinen Forschungsinteressen und verspricht Zugänge zum Thema Künstliche Intelligenz, die im Alltag eher verborgen bleiben.

Die wissenschaftlichen Chairs Elisabeth Zimmermann und Gregor Schöner haben ein ausgesprochen spannendes und vielseitiges Programm zusammengestellt. Neben Einführungsseminaren in Maschinellem Lernen, Neurowissenschaften, Dynamische Systeme, Technikphilosophie und -ethik (Judith Simon) und Computergestützter Kreativität (Philipp Wicke) drehen sich die speziellen Kurse und Poster, wie das Thema schon vermuten lässt, vor allem um Variationen der Kognitionswissenschaften. Vor allem die Computational Neurosciences standen im Fokus: Im Kurs Predictive Coding (Krzysztof Dolega) verknüpft mit der Philosophie oder in Bionic Prosthetics in Medicine and Technology (Cosima Prahm) in der Überschneidung mit Medizin und Informatik.

Manche Kurse bogen ein wenig von dieser Richtung ab: Novelty: knowledge creation and innovation as creative thinging and engaging with the future (Markus F. Peschl) verband vor diesem Hintergrund Design und Philosophie, Mind, Body, Things, Dreams – Dynamics of Self-Experience (Annekatrin Vetter, Katharina Krämer, Sophia Reul) verfolgte einen psychoanalytischen Ansatz der Selbsterfahrung durch (soziales) Träumen, der wiederum als Grundlage für Forschungen in Kognitionswissenschaft und Informatik dienen kann.

Großartig war auch die Keynote von Charles Spence zu Gastrophysics (ins Deutsche irreführenderweise als „Gastrologik“ übersetzt), deren Quintessenz war: das haptische Design von Geschirr, Besteck und Verpackung von Nahrungsmitteln macht einen geschmacklichen Unterschied. Ein Thema, das nicht nur alle von uns im Alltag beschäftigt und die Spitzengastronomie zu Höchstleistungen veranlasst, sondern das auch im KI-Hub Kunststoffverpackungen hoch relevant ist – dort allerdings mit einem Twist zu nachhaltigem Verpackungsdesign.

Dynamische Systeme bis tief in die Nacht

Das klare Highlight des IK 2023 war für mich, und sicherlich auch für einige andere, der Einführungskurs zu Dynamischen Systemen von Herbert Jaeger, Professor für Computing in Cognitive Materials an der Universität Groningen. Im IK sind die Kurse eigentlich so strukturiert, dass es zu jedem Thema drei bis vier anderthalbstündige Sessions gibt. Der Kurs zu dynamischen Systemen wurde dann aber so spannend, dass wir Teilnehmenden Herbert Jaeger gebeten haben, noch eine fünfte Session zu geben, was er uns gerne ermöglicht hat – um 22:00 Uhr, damit wir auch die anderen Kurse nicht verpassen.

Dynamische Systeme sind reale, künstliche oder formale Systeme, die sich im Laufe der Zeit entwickeln, also nicht bloß isolierte Zustände haben. Im Grunde ist fast alles ein dynamisches System, vom Stein bis zum Gehirn oder der Atmosphäre – aber auch möglicherweise unklar definierte kognitiv-körperliche Phänomene wie Emotionen. Gerade im interdisziplinären Kontext ist dabei nicht immer klar, was ein dynamisches System überhaupt ist, welche verschiedenen Formen dynamischer Systeme es gibt, welcher Ansatz sich für die Modellierung eines bestimmten Phänomens eignet und welche Aspekte des Phänomens in das Modell mit aufgenommen werden müssen, damit es realitätsgetreu beschreibbar wird und dabei mathematisch beschreibbar bleibt. Gerade deshalb ist die Anwendung dynamischer Systeme ein Paradebeispiel für die Notwendigkeit interdisziplinärer Zusammenarbeit, um die Wissenschaft mit dem Ziel der Wahrheitsfindung voranzubringen.

Dass dynamische Systeme sehr schön klingen können, hat Christian Faubel in seiner Keynote Analog Utopia, a radical critique of the digital und anschließenden Performance Songs from my analog utopia gezeigt. Aus verschiedenen Materialien baut er analoge neuronale Netze, die durch ihre systemischen Bewegungen Sounds erzeugen, die mal an eine Nacht im Berghain, mal an eine Nacht im Urban Spree erinnern. Auch „Metal“ kann hier bisweilen doppeldeutig verstanden werden. Als Bühne für seine Klangentitäten nutzt er seinen Overheadprojektor, dessen Projektion an der Wand zu einem dynamischen Visual wird, das sich in aller Kritik augenzwinkernd von der digitalen Welt abhebt, weil klar ist, dass das Analoge mindestens ebenso interessant ist.

Inspiriert zurück in die Realität

Nach der nächtlichen Session zu dynamischen Systemen sind einige in den AlgoRave verschwunden, einige haben noch im Chor gesungen oder sich in der Bar, im Pool oder auf eine Partie Billard getroffen. Auch im nächsten Jahr wird das so sein, aber sicher mit ein paar neuen Gesichtern und hochspannenden Entwicklungen in der Informatik und den Kognitionswissenschaften, die es zu diskutieren gilt.

Als ich das wabenförmige Gebäude nach ein paar Tagen zum ersten Mal verlasse, glaube ich endlich verstanden zu haben, was ein Wurmloch ist.

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Das Interdisziplinäre Kolleg findet jedes Jahr im März in Günne am Möhnesee statt. Das nächste IK ist vom 1. bis 8. März 2024 geplant. Weitere Informationen und Anmeldung hier: https://interdisciplinary-college.org/

Hier finden Sie den Link zu den Folien von Herbert Jaeger: https://www.ai.rug.nl/minds/uploads/IntroDynSys_IK_2021.pdf

 

Blick auf eine Vortragenden, Michael Bressler, und sein Publikum. Auf einem Bildschirm ist das Modell eines menschlichen Körpers abgebildet und die Worte "positioning the phantom limb"
Die Kurse auf dem IK bestehen in der Regel aus mehreren Sessions und ermöglichen so ein tieferes Einsteigen in die Themen. (© Maike Klein)
Auf dem Fliesenboden liegen mehrere Stühle ineinander verschränkt, rund um sie stehen Menschen und betrachten ihr Werk, das bei einer Team-Aufgabe passiert ist.
Diese Konstruktion haben Teilnehmende bei einem Teamspiel gebaut. (© Benjamin Paaßen)
Blick auf die Decke des Gebäudes, sie besteht aus wabenartigen Strukturen. In einigen von ihnen sind Glühlampen befestigt.
Unter diesen Waben sind viele tolle Ideen entstanden. (© Maike Klein)
Aufnahme vom Ufer des Möhnesees bei Günne
Am Möhnesee treffen sich schon seit Jahren Forschende aus unterschiedlichen Disziplinen. (© Maike Klein)