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GewissensbitInformatik und Gesellschaft

Fallbeispiel: Leistungsfähigkeit

Mit dem Erheben von Performance-Daten wollen Unternehmen ihre Personalplanung effizienter gestalten und die Leistungsfähigkeit ihrer Mitarbeiter steigern. Doch der verantwortungsvolle Umgang mit den Daten stellt Unternehmensführung und Angestellte vor ethische Herausforderungen.

Die vor wenigen Jahren gegründete Marktkette YourLife verkauft Lebensmittelprodukte, mit einem Schwerpunkt auf regionale Produkte, zusammen mit einem großen Sortiment an Drogeriemarktartikeln und Wellnessprodukten. Insbesondere im Bereich der Drogerieartikel versucht sie mit Eigenprodukten einen stabilen Marktanteil in Großstädten zu erreichen.

YourLife ist auch sehr aktiv im Internet und bietet zusätzlich zum Ladenverkauf Online-Shopping an.

Diese Bereiche werden durch die Firma ITCompetenceForYou GmbH, ITC4U genannt, abgedeckt. ITC4U ist ein recht junges Unternehmen mit insgesamt 12 Angestellten.

ITC4U hat für YourLife auch einige Apps im BereichWellness und gesunder Lebensstil entwickelt, die Nutzer bei gesunder Ernährung, dem Abnehmen und regelmäßiger Bewegung im Alltag unterstützen sollen. Die Nutzer geben persönliche Daten sowie alle Aktivitäten ein und erhalten spezifische Tagespläne, Informationen und Anregungen, teilweise verbunden mit Ernährungstipps oder Hinweisen auf Nahrungsergänzungsmittel, die im YourLife-Online-Shop oder den Läden erhältlich sind. Die Apps können leicht mit den in den Märkten angebotenen Körperwaagen oder Blutdruckmessgeräten verbunden werden und weisen zusätzlich auf Sonderangebote im Markt hin, um so eine bessere Kundenbindung zu erreichen.

B. Lange arbeitet seit längerer Zeit intensiv daran, bei Frauenmit starken Zyklusbeschwerden durch gezielte Ernährungspläne und an den Zyklus angepassteNahrungsergänzungsprodukte die Beschwerden zu lindern. Zusammenmit ITC4U hat B. Lange die App Unbeschwert entwickelt, die ihre aktuellen Ansätze beinhaltet. Die App erstellt basierend auf Gesundheitsdaten und Informationen zum aktuellen Wohlbefinden und Beschwerden Vorschläge für spezifische Gymnastikübungen und Ernährung. Unterstützt wurde die Entwicklung von YourLife, die ihre Mitarbeiterinnen bittet, den Prototypen der App zu testen. Die Daten werden nicht mit YourLife geteilt, sondern zur Verbesserung der App anonymisiert und an B. Lange weitergereicht. YourLife hat die App bei den vorwiegend weiblichen Angestellten bekannt gemacht, um die Verbesserung des Prototypen zu unterstützen, bevor dieser groß angekündigt werden soll. Für diese Testzwecke steht die App nur auf dem internen App-Server, der nur nach Login mit der Personalnummer und einem PIN-Code erreichbar ist, zur Verfügung.

YourLife hat von Anfang an auf persönlichen Kontakt mit den Kunden gesetzt und daher eine große Personaldichte. In letzter Zeit hat es in einigen Filialen aber immer wieder längere Schlangen an den Kassen gegeben und die Personen, die eigentlich für die Beratung eingeteilt wurden, mussten dann auch an den Kassen einspringen. Um dies besser analysieren zu können und die Personalplanung insbesondere der Teilzeitangestellten zu optimieren, stellt YourLife alle Log-Daten der Scannerkassen der letzten 12 Monate zur Analyse zur Verfügung. ITC4U soll basierend auf diesen Daten ein System zur optimierten Personalplanung erstellen. Da sich die Kassiererinnen immer bei denKassen einloggen müssen, wird ITC4U auch gebeten, eine Leistungsanalyse der Kassiererinnen basierend auf den Daten vorzunehmen. Die Personaldaten aller Kassiererinnen, die Voll- oder Teilzeit bei YourLife arbeiten, stehen ITC4U nicht zur Verfügung.

Andreas und Markus sind mit dieser Aufgabe betraut. Sie erstellen verschiedene Kennzahlen, um die Schnelligkeit an der Kasse zu beschreiben. Hierbei ergeben sich, wenn man die Zahlen detailliert analysiert, deutliche Unterschiede basierend auf der Tageszeit. Die Schlüsse daraus können vielleicht genutzt werden, Pausenzeiten besser zu planen. Auch zeigt sich deutlich, dass die Geschwindigkeit der einzelnen Personen von Tag zu Tag Unterschiede aufweist.

Als sie amNachmittag beim Kaffee mit Clemens darüber sprechen, der für die Aufbereitung der Daten aus der AppUnbeschwert für B. Lange zuständig ist, kommt Markus die Idee, man könne, sofern diese Daten auch irgendwiemit der Personalnummer verknüpft sind, die Daten jamal mit den Performancedaten an der Kasse vergleichen.Nachdemsich die drei zuerst etwas erstaunt anschauen, da die Idee doch etwas gewagt scheint, nehmen sie es doch in Angriff. Tatsächlich kann Clemens die Personalnummer in den ihm zur Verfügung gestellten Daten erkennen. 20 Testnutzerinnen der App arbeiten auch an der Kasse und so sind schnell einige Auswertungen gemacht. Bei acht Frauen ergibt sich ein deutlicher Leistungsabfall in den ersten zwei Tagen des Zyklus, bei denen in derApp größere Schmerzen eingetragen wurden, bei 12 weiteren Personen ist ein nicht signifikanter Effekt zu beobachten.Andreas grinst die beiden anderen an: ,,Naja, jetzt weiß ichwenigstens warummeine Liebste manchmal nichts auf die Reihe bekommt!“ Die anderen beiden grinsen zurück.

Im Teammeeting von ITC4U am Mittwoch machen die beiden ITC4U-Inhaber Thomas und Frank die Ankündigung, dass Frank sich aus gesundheitlichen Gründen aus der Teamleitung zurückziehen wird. Daher bitten sie um In-Haus-Bewerbungen. Clemens zieht hörbar die Luft ein. Andreas grinst ihn an. Das wäre der Traum von Clemens und er wäre super geeignet. Als dann aber Frank seine Stellvertreterin Martina bittet, die neuen Projekte vorzustellen, beschleicht Clemens ein komisches Gefühl. Es scheint, als hätten Frank und Thomas eigentlich schon einen neuen technischen Leiter – eine Leiterin – bestimmt. Martina ist die einzige Ingenieurin in der Firma.

Beim Bier abends macht sich Markus Luft. Er und die anderen sind mit Martina nie so recht warm geworden. Sie ist immer so ernst und professionell und hat keinen Sinn für Humor. Seit sie im Großraumbüro sitzt sei es weniger entspannt und lustig, die Arbeit würde nicht mehr wirklich Spaß machen. Wenn sie dann noch für die Projekte verantwortlich sei! Nein, das ginge gar nicht. Da schaut Andreas ihn an. Das sollte doch nicht so schwierig sein … Sie sei doch eine Frau und mit ihren Analysen letzteWoche hätten sie doch gezeigt, dass die Leistungsfähigkeit von Frauen zyklusabhängig sei. Die Firma kann sich niemanden leisten, der nicht immer voll einsatzfähig sei. Markus wirft ein, dass sie ja nur wenige Daten hätten und die Effekte nur bei acht Personen signifikant seien. Andreas wischt die Bedenken beiseite, immerhin hätten sie es da schwarz auf weiß und sie wüssten ja wohl alle, dass ihre Frauen manchmal schlechte Launen hätten. Da fangen sie alle drei an zu lachen. Markus bietet an, diese Ergebnisse morgen so nebenbei bei Thomas und Frank anzusprechen. Andreas hebt sein Glas: Auf Clemens, den neuen technischen Leiter!

Auf demNachhauseweg fühlt sich Clemens nicht sehr gut. Ob sie die Daten wirklich so weitergeben sollten? Vielleicht schadet das Martina mehr, als nur in Bezug auf die Bewerbung zur technischen Leiterin? Und was ist, wenn Thomas oder Frank die Daten so interessant finden, dass sie die Daten an YourLife weitergeben? Und überhaupt, riskieren sie Probleme, weil sie die Daten einfach so zusammengefügt haben?

Fragen

  • Ist es richtig, In-Haus-Bewerbungen für eine Teamleitung bei einer so kleinen Firma zu verlangen? Sollten die Geschäftsführer das nicht einfach selber bestimmen?
  • Ist so eine Verknüpfung zweier Datenmengen zulässig? Es geschieht ja innerhalb der Firma. Wenn es rechtlich zulässig ist, ist es ethisch vertretbar?
  • Gibt es rechtliche Vorschriften für eine Analyse von Performance-Daten? Müssen die Mitarbeiterinnen aufgeklärt werden darüber, was die Firma mit den Daten vor hat?
  • Die App in vorliegendem Beispiel wurde gezielt für Frauen mit Beschwerden entwickelt. Schwächt dies die Aussage, die aus der Verknüpfung der Daten gezogen werden können?
  • Data Mining ist ein nützliches Instrument, um Zusammenhänge zu entdecken, die man sonst nicht vermutet. Worin bestehen die Gefahren, die Zusammenhänge falsch zu interpretieren, zum Beispiel also eine Kausalität zu unterstellen? Wenn Zusammenhänge fest gestellt werden, sollen diese verwendet werden? Gibt es Gründe, festgestellte Zusammenhänge nicht zu verwenden?
  • Wie wird die Signifikanz von Zusammenhängen festgestellt? Ist eine Aussage ,,signifikanter Zusammenhang“ objektiv?
  • Es ist schwer, aus Daten gewonnene Zusammenhänge richtig zu interpretieren. Welche Voraussetzungen braucht es hierfür? Wie kann man Außenstehenden, welche die Methoden nicht kennen, die entdeckten Zusammenhänge erklären? Es können hierbei ja leicht Missverständnisse entstehen.
  • Im beschriebenen Fall möchte Markus die Inhaber von ICT4U auf die wenigen Daten hinweisen, in denen Frauen zu Beginn des Zyklus etwas weniger leistungsfähig sind. Er möchte nicht darauf hinweisen, wie wenige Daten sie haben, und auch nicht direkt Martina ansprechen. Jedoch hofft er, dass diese Information Entscheidungen beeinflussen wird. Wie ist sein Verhalten zu bewerten? Wenn Frank und Thomas darauf anspringen, wie muss dann ihr Verhalten bewertet werden? Wie groß ist das Risiko, dass wir uns unbewusst durch auf diese Weise dargestellten und mit vermeintlich ausreichenden Daten ,,untermauerten“ Zusammenhänge beeinflussen lassen?
  • Kennen Sie Beispiele von einem ,,allzu lockeren“ Umgang mit Zusammenhängen, die man in Daten gesehen hat? Hatten diese Beispiele negative Konsequenzen? Positive Konsequenzen?
  • Wir Menschen tendieren oft dazu, andere in Schubladen zu stecken. Vergrößert sich diese Gefahr durch die zunehmende Datenanalyse? Oder werden wir vielleicht lernen, dass das Gegenüber nicht so leicht zu erfassen ist, je mehr verschiedene Zusammenhänge uns bekannt werden? Kann die Vielfalt von Informationen, die wir über unser Gegenüber erhalten, auch dazu führen, dass wir diese nicht mehr so leicht in Schubladen stecken?

Erschienen im Informatik Spektrum 41(3), 2018, S. 208–210


Autorinnen

Debora Weber-Wulff

Prof. Dr. Debora Weber-Wulff lehrt seit 2001 Medieninformatik an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin. Sie engagiert sich auf dem Gebiet der Plagiatserkennung und in der GI-Fachgruppe "Informatik und Ethik". Sie war maßgeblich an der Novellierung der Ethischen Leilinien der Gesellschaft für Informatik 2018 beteiligt und wurde 2018 zur GI-Fellow ernannt.

Christina Class

Prof. Dr. Christina Class studierte Wirtschaftsinformatik in Mannheim und der Université de Nice Sophia Antipolis. Seit 2017 ist sie Professorin für Informatik an der Erst-Abbe Hochschule Jena. Darüber hinaus engagiert sie sich unter anderem als Sprecherin des GI-Fachbereiches "Informatik und Gesellschaft" und ist in der GI-Fachgruppe "Informatik und Ethik" aktiv.


Dieses Fallbeispiel wurde auf dem Blog „Gewissensbits – Fallbeispiele zu Informatik und Ethik“ der GI-Fachgruppe Informatik und Ethik veröffentlicht: https://gewissensbits.gi.de/fallbeispiel-leistungsfaehigkeit/. Dort können Sie auch alle weiteren Fallbeispiele nachlesen und kommentieren.