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Blogbeitrag

Der innere Freu(n)d, Virtuelle Realität für den Perspektivenwechsel

Sich selbst als Therapeut:in gegenübersitzen, ist laut Wissenschaftler:innen der University of Barcelona ein vielversprechender Ansatz, um bestehende Therapieformen künftig erfolgreich zu erweitern. Im Rahmen einer Studie untersuchten Osimo et al., inwieweit mit Hilfe von Virtual Reality (VR) ein Perspektivenwechsel im Rahmen eines Selbstgesprächs Auswirkungen auf die Stimmungslage von Proband:innen haben kann (nature.com).

Dabei nahmen die Teilnehmer:innen im Wechsel zwei virtuelle Körper an – einmal einen Avatar ihres eigenen Körpers und einmal den Avatar von Sigmund Freud. Sie wurden gebeten, während sie ihren eigenen Avatar verkörperten, ihrem Gegenüber ein persönliches Problem zu schildern, über das sie gerne sprechen würden. Im Anschluss wechselten sie die Perspektive, sodass sie nun aus Sicht des virtuellen Sigmund Freud ihren eigenen Avatar sehen konnten und Mimik, Gestik, sowie die Tonspur des geschilderten Problems wurden noch einmal abgespielt. Daraufhin sollten sie ihrem virtuellen Selbst Ratschläge und Bewältigungsstrategien zur Lösung des Problems geben. Das Gesprochene wurde dann, nach einem erneuten Wechsel, mit einer künstlich veränderten Stimme noch einmal wiedergegeben. Diese Prozedur wurde so lange wiederholt, bis der/die Teilnehmer:in sich dazu entschied, aufzuhören. Im Wesentlichen wurden zwei Erkenntnisse herausgestellt:

Erstens, das Selbstgespräch in Verbindung mit einem Wechsel der Perspektive führte zu einer Besserung der Stimmungslage und allgemeinen Zufriedenheit.

Zweitens, der Effekt dabei war signifikant größer mit Sigmund Freud als Avatar der therapeutischen Perspektive. (In einem alternativen Setting nahmen die Teilnehmer:innen in beiden Perspektiven die Gestalt ihres eigenen Avatars an.)

Da die Proband:innen gebeten wurden, über leichte bis mittelschwere Probleme zu berichten und Kandidat:innen mit traumatischen Erlebnissen von der Studie ausgeschlossen waren, ist noch fraglich, inwieweit die Ergebnisse für schwerwiegendere klinische Krankheitsbilder übertragbar sind. Weiterhin bleibt unklar, ob es bei dem Avatar des Therapeuten eine Rolle spielt, um welchen Charakter es sich handelt. Die Autor:innen argumentieren jedoch, dass aufgrund möglicher Assoziationen mit dem dargestellten Charakter ein Mindestmaß an Vertrauen in dessen Kompetenz von Bedeutung ist.

Bereits eingesetzt wird VR im Bereich der Konfrontationstherapie (mixed.de). Konfrontations- bzw. Expositionstherapie ist im Allgemeinen eine Methode aus der Verhaltenstherapie, die oft bei Angststörungen, insbesondere Phobien, zum Einsatz kommt. Hierbei wird die betroffene Person unter psychotherapeutischer Begleitung und mit vorausgegangener entsprechender Vorbereitung mit den für sie angstauslösenden Reizen konfrontiert. Die Methode verfolgt den Ansatz, dass Betroffene durch die reale Erfahrung der Konfrontation ihre Angst verlernen können, indem sie in der angstauslösenden Situation verharren, anstatt ihr auszuweichen. Im Anschluss an die Exposition wird die Diskrepanz zwischen den zuvor festgehaltenen Ängsten und dem tatsächlich Geschehenen im Rahmen der therapeutischen Sitzung reflektiert. Hierbei wird das mentale Weltbild der Patient:innen durch Reflexion der Fakten aktiv in Frage gestellt (wikipedia.org).

Studien konnten bereits belegen, dass Konfrontationstherapien in VR wirksam sind, obwohl Patient:innen wissen, dass die Situationen nicht real sind (researchgate.net). Angstauslösende Umgebungen können mithilfe von VR kosteneffizient und mit geringem Aufwand simuliert werden. Zudem stellen sie einen niedrigschwelligen Einstieg für Patient:innen in die Konfrontationstherapie dar (archive.org). In einem Beitrag von 2019 spricht Psychotherapeut Felix Eschenburg von seinen Erfahrungen mit dem Einsatz von VR in der Verhaltenstherapie. Patient:innen können sich eher auf die Konfrontation in der nicht-realen virtuellen Welt einlassen, als beispielsweise echte Spinnen in die Hand zu nehmen. Es werden auditive und visuelle Stimuli eingesetzt, die die Angst bei Betroffenen auslösen, sodass sie einen Umgang mit ihnen lernen können, ohne sich ihnen in realen Umgebungen aussetzen zu müssen (mixed.de, hinter Paywall).

Das Verkörpern eines Avatars in der virtuellen Realität kann unterschiedliche positive Effekte haben. Für die Identifikation mit dem virtuellen Selbst spielt es in der Regel keine Rolle, ob der Avatar den Teilnehmenden ähnlich sieht oder völlig andere Merkmale (Hautfarbe, Gewicht, Größe, [...]), aufweist: Es fühlt sich an, als wäre es der eigene Körper. Lediglich fehlende Synchronität zwischen Avatar und Nutzer:in schränkt die Verbundenheit ein. 

So zeigen Banakou et al., dass die Nutzung eines schwarzen Avatars bei weißen Teilnehmenden zu einer Reduktion der impliziten rassistischen Voreingenommenheit (implicit racial bias) führt, die sogar eine Woche später noch bestehen bleibt (nih.gov). Diesen Effekt machen sich auch im deutschsprachigen Raum Projekte wie „AugenBLICK mal!” (gemeinsam-bruecken-bauen.de) und „VRZ360 – Die Antirassismus-Brille” (vielrespektzentrum.de) zunutze und ermöglichen es Bürger:innen, den Perspektivenwechsel am eigenen Leib zu erfahren.

Auch im Fall von häuslicher Gewalt gegen Frauen führte der Einsatz von VR zu einer wesentlichen Wahrnehmungsanpassung bei Straftäter:innen. Es wurde gezeigt, dass diese im Vergleich zur Kontrollgruppe häufig Probleme haben, Emotionen korrekt einzuschätzen. So wurden beispielsweise häufig ängstliche Frauengesichter als glücklich deklariert. Durch das Erleben einer Situation von häuslicher Gewalt in der virtuellen Realität, bei dem die Straftäter einen weiblichen Avatar und die Rolle des Opfers erhielten, konnte diese Wahrnehmung verbessert werden (nature.com).

Virtuelle Realität kann jedoch nicht ausschließlich dazu genutzt werden schlechte Eigenschaften abzumildern, sondern auch dazu, die eigene Leistung zu steigern. Durch das Verkörpern von Einstein, der dafür als Avatar konzipiert wurde, konnte die kognitive Leistung (cognitive task performance) verbessert werden. Der Effekt ist umso stärker, wenn das Selbstvertrauen der Nutzer:innen verhältnismäßig niedrig ist (frontiersin.org).

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass VR nicht nur für Spielereien nutzbar ist. Auch in Bereichen, die bisher nur wenig mit VR in Verbindung gebracht werden, wie zum Beispiel der Psychotherapie, gibt es eine Vielzahl an Einsatzmöglichkeiten. Diese bieten die Gelegenheit, neue Therapieformen zu schaffen und bestehende zu erweitern. Positiv lässt sich außerdem der kostengünstige und niedrigschwellige Zugang hervorheben, der dabei helfen könnte, die gesellschaftliche Akzeptanz von Therapien weiter zu fördern.

Dieser Überblick wurde verfasst von Yasmina Adams, Sarah Groos und Johannes Korz aus der Redaktionsgruppe „SocIeTy“. Da sowohl gesellschaftlich als auch politisch insbesondere im Rahmen der Verwendung neuer Technologien immer wieder Diskussionsbedarf entsteht, freuen wir uns, gemeinsam einen Diskurs zu genau solchen Themen zu gestalten. Verlinken (und folgen) Sie uns gerne auf Twitter unter @society_read. Sie erreichen uns außerdem unter redaktion.sozioinformatik@cs.uni-kl.de.

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