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Lexikon

Digitaler Zwilling

Einleitung – Was ist ein digitaler Zwilling?

Digitale Zwillinge sind digitale Repräsentanzen von Dingen aus der realen Welt. Sie beschreiben sowohl physische Objekte als auch nicht-physische Dinge wie zum Beispiel Dienste, indem sie alle relevanten Informationen und Dienste mittels einer einheitlichen Schnittstelle zur Verfügung stellen. Für den digitalen Zwilling ist es dabei unerheblich, ob das Gegenstück in der realen Welt schon existiert oder erst existieren wird. Auch wenn zum Beispiel eine Produktionsanlage erst in der Planung ist, kann sie bereits einen digitalen Zwilling besitzen, der die zentralen Eigenschaften dieser Anlage beschreibt. Ebenso könnte ein Werkstück, dessen Fertigung gerade erst begonnen hat, schon einen digitalen Zwilling besitzen, der neben den momentanen Eigenschaften des Werkstücks auch bereits alle Eigenschaften des Werkstücks beschreibt, die es zum Zeitpunkt seiner Fertigstellung haben wird.

Die zentrale Motivation für die Realisierung von digitalen Zwillingen ist es, einen übergreifenden Informationsaustausch zu ermöglichen. Mittels des digitalen Zwillings kann ein Hersteller prüfen, ob die Werkstücke eines Zulieferers alle geforderten Eigenschaften haben werden, auch wenn diese noch gar nicht produziert wurden. Ebenfalls erlauben es digitale Zwillinge, die Herstellung eines Produkts virtuell zu planen. Alle Produktionsschritte werden dazu in dem digitalen Zwilling hinterlegt. Noch bevor die Produktion beginnt, kann diese Produktion mit dem digitalen Zwilling der Fertigungslinie virtuell erprobt und optimiert werden [1]. Dafür ist es erforderlich, dass der digitale Zwilling der Fertigungslinie und der digitale Zwilling des Werkstücks eine gemeinsame Schnittstelle definieren. Arbeitsschritte und dafür notwendige Werkzeuge und Geräte müssen von beiden digitalen Zwillingen einheitlich beschrieben werden. Wird das Werkstück anschließend an einen Kunden weitergegeben, der dieses in ein Produkt integriert, so könnte dieser ebenfalls den digitalen Zwilling nutzen, um seine Prozesse im Vorfeld zu optimieren. In diesem Fall muss der digitale Zwilling seiner Fertigungslinie ebenfalls eine kompatible Schnittstelle unterstützen.

Ein zentraler Aspekt von digitalen Zwillingen ist daher die Fähigkeit, verschiedene Informationen in einem einheitlichen Format zu repräsentieren. Digitale Zwillinge sind jedoch mehr als reine Daten. Sie beinhalten Algorithmen, die ihr Gegenstück aus der realen Welt akkurat beschreiben. Häufig handelt es sich dabei um Simulationsmodelle, die zum Beispiel funktionale oder physische Eigenschaften des digitalen Zwillings simulieren. Werden diese Simulationsmodelle mit realen Daten ausgeführt, dann verhält sich der digitale Zwilling idealerweise genauso wie sein reales Gegenstück. Damit erhält man die Möglichkeit, reale Tests durch virtuell durchgeführte Erprobungen zu ersetzen. Komplexe Anlagen lassen sich virtuell in Betrieb nehmen, bevor sie real fertiggestellt sind, um frühzeitig die Programmierung zu optimieren und so Zeit zu sparen. Ebenfalls lassen sich sehr teure Tests, zum Beispiel von Flugzeugen, teilweise durch Simulationen ersetzen.

Abbildung 1 zeigt ein solches Beispiel aus der Domäne der Luftfahrt. Ein digitaler Zwilling repräsentiert das vollständige System; Teilsysteme werden ebenfalls von digitalen Zwillingen repräsentiert. Digitale Zwillinge enthalten Simulationsmodelle; Zwillinge von zusammengesetzten Systemen greifen auf die Simulationsmodelle von Teilkomponenten zu. Reale Daten werden mittels definierter Schnittstellen bereitgestellt, und simulierte Reaktionen werden ebenfalls über definierte Schnittstellen zurückgeliefert.

Die durch digitale Zwillinge bereitgestellten Daten können auch im Fehlerfall genutzt werden, um die Ursachen eines möglicherweise katastrophalen Fehlers, der das reale Gegenstück zerstört hat, zu erforschen. Ermöglicht der digitale Zwilling nicht nur Zugriff auf aktuelle, sondern auch auf historische Daten, dann kann die Historie eines funktionierenden und eines defekten Werkstücks miteinander verglichen werden, um zum Beispiel signifikante Ereignisse während der Produktion oder des Einsatzes zu erkennen, die den Fehler verursacht haben könnten. Teile von schlechter Qualität könnten so mithilfe ihres digitalen Zwillings frühzeitig erkannt und aus dem Verkehr gezogen werden.

Anwendungsbereiche von digitalen Zwillingen

Die prominenteste Anwendungsdomäne von digitalen Zwillingen ist heute die Produktionstechnik. Es gibt zahlreiche Versuchsanlagen, die digitale Zwillinge verwenden. Ebenfalls gibt es (Software-) Produkte, die digitale Zwillinge als einheitliche Repräsentanz von Sensordaten bereitstellen, um zum Beispiel die prädiktive Wartung von beanspruchten Anlagenteilen zu ermöglichen:

Zum Beispiel wurde auf der SPS ICS Drives 2016 eine Lösung [2] vorgestellt, die einen digitalen Zwilling einer vollständigen Produktionsanlage realisiert. Dieser bildet sowohl das physikalische Verhalten der Anlage als Mehrkörpersimulation als auch das Automatisierungsverhalten als funktionale Simulation ab. Dieser digitale Zwilling bildet die Anlage daher während ihres gesamten Lebenszyklus ab. Schon während der Planung können Ingenieure diese Simulationsmodelle nutzen, um Abläufe zu optimieren. Ist die Anlage in Betrieb, können die gleichen Simulationsmodelle verwendet werden, um Abläufe weiter zu optimieren und um die Produktion zu wandeln.

Die Autoren von [3] beschreiben das Problem der einheitlichen Schnittstellen von digitalen Zwillingen. Schon heute gibt es Produkte für die Automatisierungstechnik, die digitale Zwillinge realisieren. Diese Produkte nutzen jeweils eine eigene Realisierung von digitalen Zwillingen. Die Vision vom übergreifenden Datenaustausch stößt heute dort an Grenzen, wo unterschiedliche Werkzeuge und Plattformen genutzt werden, um digitale Zwillinge zu realisieren. Ist die gleiche Anlage zum Beispiel wie in [3] beschrieben sowohl in einem Service- als auch in einem Instandhaltungssystem enthalten, so gibt es mindestens zwei digitale Repräsentanzen der gleichen Anlage. Integrationsplattformen ermöglichen es daher, Daten aus unterschiedlichen Werkzeugen miteinander zu integrieren und integriert wieder bereitzustellen. Die Harmonisierung von digitalen Zwillingen über diese Plattformen hinweg und die Integration von Simulationsalgorithmen in digitale Zwillinge bleiben dabei Herausforderungen, die von den heute im Markt verfügbaren Produkten nicht vollständig abgedeckt werden.

Digitale Zwillinge werden jedoch nicht nur in der Produktion eingesetzt. Schon 2012 haben Wissenschaftler der NASA den digitalen Zwilling als Lösung für ausufernde Kosten für Zertifizierung und Tests vorgeschlagen [4]. Da Zertifizierungsvorgaben immer aufwändigere Tests erforderten, sollten reale Tests teilweise durch Tests mit digitalen Zwillingen ersetzt werden, die mittels der Kombination von realen Daten und Simulationsmodellen realisiert werden sollten. Die Autoren fokussierten dabei auf die physikalischen Eigenschaften von neuen Materialien, um deren Belastbarkeit an kritischen Stellen beispielsweise einer Sonde oder eines Flugzeugs nachzuweisen. Dabei wird eine weitere zentrale Eigenschaft von digitalen Zwillingen charakterisiert: Um die für solche Untersuchungen erforderliche Simulationsgenauigkeit zu erreichen, müssen digitale Zwillinge verschiedene spezialisierte Simulationsmodelle integrieren können.

Bildet man diesen Umstand auf die Fertigung von Luftfahrzeugen heute ab, so müssten die digitalen Zwillinge von allen Zulieferern ausreichend genaue Simulationsmodelle bereitstellen, um eine integrierte Simulation der Belastbarkeit eines Flugzeugs zu ermöglichen. Diese müssten miteinander interagieren, um eine integrierte Simulation zu realisieren. Dabei muss ebenfalls berücksichtigt werden, dass verschiedene Hersteller unterschiedliche Werkzeuge nutzen, um Simulationsmodelle zu erstellen. Neben dem Datenaustausch müssten daher auch die zur Simulation genutzten Algorithmen miteinander integriert werden. Ebenfalls müsste sich der Verlauf der Produktion in den digitalen Zwillingen widerspiegeln. Wäre ein Teil aufgrund eines Produktionsfehlers nicht ausreichend belastbar, so müsste dies mithilfe der im digitalen Zwilling enthaltenen Daten und Simulationsmodelle erkennbar sein.

Herausforderungen und Lösungsansätze

Eine zentrale Herausforderung für die Realisierung von digitalen Zwillingen ist daher die Integration von Simulationsmodellen einzelner digitaler Zwillinge in eine Simulation des Gesamtsystems. Das Functional Mockup Interface (FMI) [7] ist eine Technologie, die dies realisiert. Es handelt sich dabei um einen Standard zum Austausch von funktionalen Simulationsmodellen. Diese werden als Functional Mockup Units (FMUs) gekapselt. FMUs definieren eine einheitliche Schnittstelle, die eine reine Co-Simulation oder die Integration der Modelle mit einem gemeinsamen Gleichungslöser ermöglicht. Durch die Realisierung einer Ereigniserkennung können dennoch numerische Effekte wie zum Beispiel Sprünge in Variablenwerten erkannt werden, und diese Bereiche können mit einer höheren zeitlichen Auflösung simuliert werden, um die Genauigkeit der Simulation zu steigern. Der FMI Standard unterstützt unter anderem Verhaltensmodelle zur Steuerung und Regelung, zum Beispiel durch die Integration von Simulink und Stateflow und Modelle zur Mehrkörpersimulation [8]. Er ist daher grundsätzlich für die Integration von Simulationsmodellen zur Realisierung von digitalen Zwillingen geeignet.

Die Kapselung von Simulationsmodellen in kompilierten Functional Mockup Units gewährleistet einen gewissen Schutz des enthaltenen geistigen Eigentums. Jedoch ist dieser Schutz nicht allumfassend und kann umgangen werden, wenn ausreichend Aufwand investiert wird. Müssen Simulationsmodelle auf sensible Algorithmen zurückgreifen, muss daher auch bei der Verwendung von digitalen Zwillingen deren Schutz gewährleistet sein. Schützenswerte Algorithmen werden daher nicht als Teil eines digitalen Zwillings übertragen werden. Stattdessen muss die Integration der Simulationsmodelle dann zur Laufzeit erfolgen und diese Algorithmen auf Servern ausgeführt werden.

Neben der technischen Integration von Simulationsmodellen muss bei der Integration von digitalen Zwillingen sichergestellt sein, dass die ausgetauschten Daten zueinander passen. Auch wenn der FMI Standard eine durchgängige und werkzeugunabhängige Anlagensimulation realisieren könnte, scheitert ein solches Unterfangen in der Praxis oft am notwendigen Datenaustausch zwischen den Simulationsmodellen. Digitale Zwillinge müssen daher sicherstellen, dass alle relevanten Daten bereitgestellt werden, und dass diese auch von anderen Zwillingen in der gleichen Art verstanden werden. Dafür muss die Bedeutung eines Datenwertes klar definiert sein. Dies erfordert ein semantisches Verständnis der Bedeutung aller Daten. Ontologien bieten hierfür eine Lösung. Sie erlauben es, die Bedeutung von Daten maschinenlesbar bereitzustellen. Auch hier gibt es unterschiedliche Aktivitäten, die Ontologien bereitstellen und pflegen. Genannt seien hier eCl@ss [6] und das IEC Common Data Dictionary [5], die beide den fehlerfreien Datenaustausch zwischen Systemen unterschiedlicher Hersteller ermöglichen sollen. Beide Ontologien charakterisieren zentrale Elemente und deren Eigenschaften. In dem sich die von digitalen Zwillingen bereitgestellten Daten auf Elemente der Ontologien beziehen, kann eine Software feststellen, ob es sich dabei um das gleiche Element handelt oder nicht. Neben der Gleichheit lassen sich in Ontologien auch weitere Eigenschaften von Elementen festhalten.

Abbildung 2 illustriert die maschinenlesbare Definition von Eigenschaften mittels einer Ontologie. Zwei Werkzeuge aus der realen Welt werden von ihren digitalen Zwillingen auf unterschiedliche Weise beschrieben. Dabei wird der eine Hammer mittels seiner Breite und Länge repräsentiert, der andere mittels seiner Größe. Die Ontologie definiert die Abhängigkeit zwischen beiden Informationen in maschinenlesbarer Form mittels einer für Ontologien vordefinierten Relation „subPropertyOf“, die beschreibt, dass ein Informationselement ein Teil einer anderen Information ist. Die ebenfalls dargestellte „equivalentProperty“ Relation bezeichnet zwei Elemente, die gleich sind. Diese Informationen können von einem IT-System verarbeitet werden und ermöglichen die automatisierte Charakterisierung der Eigenschaften von digitalen Zwillingen.

Mit Relationen zwischen Elementen unterschiedlicher Ontologien lassen sich Verknüpfungen zwischen diesen Ontologien herstellen. Dies ist erforderlich, da es auch in Zukunft keine Ontologie geben wird, die alle Eigenschaften von allen Dingen beschreiben wird. Das Bereitstellen solcher Abbildungen in einer einheitlichen und fehlerfreien Weise ist eine weitere Herausforderung bei der Realisierung von digitalen Zwillingen.

Fazit

Der digitale Zwilling ist eine Schlüsseltechnologie für die Digitalisierung unserer Welt. Heutige Realisierungen zeigen das Potenzial von digitalen Zwillingen auf, indem Daten in Echtzeit miteinander integriert und in einer gemeinsamen Form bereitgestellt werden. In der Forschung arbeitet man daran, diese Daten auch plattformübergreifend mit einer Bedeutung zu versehen und so einen automatisierten und herstellerübergreifenden Austausch zu ermöglichen. Durch die Kombination mit Simulationsmodellen werden Was-wäre-wenn-Analysen im virtuellen Raum möglich, die eine Optimierung von Prozessen und Produkten ermöglichen, ohne dass reale Prozesse davon beeinträchtigt werden. Erst wenn eine optimale Lösung gefunden ist, wird die reale Produktion umgestellt.

Die Beispiele aus [2], [3] und [4] zeigen die zentralen Herausforderungen von digitalen Zwillingen. Auch wenn bei den technologischen Plattformen zur Realisierung von digitalen Zwillingen und bei den Ontologien zur Beschreibung von Eigenschaften langfristig mehrere Lösungen miteinander konkurrieren werden, müssen Wege gefunden werden, um diese unterschiedlichen Lösungen zu koppeln. Nur dann ist es möglich, mit digitalen Zwillingen ganzheitliche Sichten auf die reale Welt zu realisieren, die realistische Vorhersagen ermöglichen.

Referenzen

  1. Markus Kannwischer: Interaktive Präzisionswerkzeuge für die effizientere Bearbeitung. Produktivitätsfortschritte durch Industrie 4.0, VDMA, 2015/05
  2. Sariana Kunze: Neues aus der Digital Enterprise-Produktkiste auf dem Weg zu Industrie 4.0 - http://www.elektrotechnik.vogel.de/neues-aus-der-digital-enterprise-produktkiste-auf-dem-weg-zu-industrie-40-a-556534/ vom 02.11.2016
  3. Timothy Kaufmann, Armin Pühringer, Benedikt Rauscher: Der digitale Zwilling. Computer & Automation, 08.08.2016.
  4. Edward Glaessgen, David Stargel: The Digital Twin Paradigm for Future NASA and U.S. Air Force Vehicles. 53rd AIAA/ASME/ASCE/AHS/ASC Structures, Structural Dynamics and Materials Conference Honolulu, Hawaii, 2012
  5. International Electrotechnical Commission: IEC 61360 - Common Data Dictionary (CDD - V2.0014.0016). http://std.iec.ch/iec61360 (letzter Zugriff im Juni 2017)
  6. eCl@ss: Classification and Product description. http://www.eclasscontent.com (letzter Zugriff im Juni 2017)
  7. Blochwitz, T., Otter, M., Arnold, M., Bausch, C., Clauß, C., Elmqvist, H., Junghanns, A., Mauss, J., Monteiro, M., Neidhold, T., Neumerkel, D., Olsson, H., Peetz, J., Wolf, S: The Functional Mockup Interface for Tool independent Exchange of Simulation Models.  Proceedings of the 8th International Modelica Conference. 8th International Modelica Conference, 20.-22. März 2011, Dresden.
  8. Hanna Sophie Baumgartl: ANSYS meets Modelica & FMI. CADFEM Journal 01/2016

Autor und Copyright

Dr. Thomas Kuhn
Fraunhofer IESE, Kaiserslautern
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