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GewissensbitInformatik und Gesellschaft

Fallbeispiel: Die Vergangenheit

Debora Weber-Wulff & Benjamin Kees

Alice ist Studentin der Informatik und besucht nun zum zweiten Mal die Jahrestagung ihrer Fachorganisation. Es ist sehr spannend für Alice, die Autoren von Büchern, die sie im Studium gern gelesen hat, hier leibhaftig versammelt zu sehen. Und so viele Leute reden in den Kaffeepausen über wirklich wichtige Informatikthemen. Sonst kann sie sich nur mit Leuten aus der Fachschaft so spezifisch unterhalten, ihr Freundeskreis kann mit IT-Themen wenig anfangen; bei Diskussionen über Sicherheit rollen sie mit den Augen. Mutig stellt sich Alice an einen Stehtisch, wo der bekannte Free-Software-Guru Nils Peters gerade die Runde unterhält. Nils ist noch jung, vielleicht zehn, fünfzehn Jahre älter als Alice, und sieht gar nicht so schlecht aus – für einen waschechten Hacker. Nils wirkt sehr rechthaberisch, aber Alice findet seine Darstellungen sehr interessant und einleuchtend. Sie schafft es, durch geschicktes Abstellen ihrer Kaffeetasse direkt neben Nils zu stehen, und traut sich sogar, etwas zu sagen, auch wenn keiner so richtig wahrnimmt, dass sie überhaupt anwesend ist.

Alice kommt daraufhin eine Idee: Zusammen mit Clara und David, mit denen sie in der Fachschaft aktiv ist, organisiert sie für das kommende Wintersemester eine Veranstaltung über freie und quelloffene Software. Die Informatik-Professoren halten nicht viel von freier Software, das hört man aus den gelegentlichen hämischen Kommentaren heraus, die sie immer wieder fallenlassen. Da keine Lehrveranstaltung das Thema abdeckt, wollen sie selbst eine Veranstaltung im Rahmen der Reihe „HalberFreitag“ dazu organisieren. Solche Events werden von der Fachschaft zwei bis drei Mal im Semester geplant und durchgeführt. Man lädt ein oder zwei Vortragende zum Thema ein, die am Freitag nach dem Mittagessen vortragen, und veranstaltet anschließend einen Workshop, bei dem man sich ganz praktisch mit dem Thema auseinandersetzt. Die Veranstaltungen sind auch außerhalb des Unikontextes sehr populär. Wäre es nicht genial, wenn Alice Nils überreden könnte, im kommenden Semester vorzutragen?

Als die nächsten Sessions beginnen, verabschieden sich die Leute vom Stehtisch. Alice nimmt allen Mut zusammen und spricht Nils an. Sie stellt sich vor und erzählt schnell vom „HalberFreitag“. Ob Nils die Möglichkeit habe, bei ihnen aufzutreten? Nils lächelt sie warm an und zückt sein Smartphone. Ja, das würde sogar passen, er sei sowieso in der Nähe am Tag davor. „Wollen wir nicht heute Abend beim Essen genauer besprechen, was ich eigentlich erzählen soll?“, fragt Nils. „Danke, aber ich habe nur ein Studierenden-Ticket, heute Abend seid ihr unter euch!“ Nils gibt ihr seine Karte: „Ist eingetragen! Alles Weitere dann per E-Mail.“

Beim nächsten Treffen des Orga-Teams der Fachschaft platzt Alice fast vor Stolz, als sie berichtet, wen sie für den Free-Software-Vortrag gewinnen konnte. David ist begeistert, klopft Alice auf die Schulter und beginnt schon laut zu überlegen, ob sie einen größeren Raum beantragen sollen.

Clara sitzt da mit versteinerter Miene. „Seid ihr mit dem Jubeln fertig? Das geht ja wohl gar nicht, dass der bei uns spricht.“ Alice und David schauen Clara mit verwundertem Blick an. „Wieso nicht? Er hat doch Zúúber mitentwickelt, das wird bombig.“

Clara schüttelt den Kopf. „Sag mal, lest ihr auch ab und zu was im Netz oder bloggt ihr nur selber? Er ist doch berüchtigt dafür, dass er andauernd Frauen belästigt. Der prahlt auch noch mit seinen Eroberungen, hat sogar Fotos von sich mit Frauen im Arm in sozialen Medien gepostet. So eine Person kann unmöglich bei uns vortragen! Außerdem ist dein Alleingang in dieser Sache nicht akzeptabel, wir entscheiden alles kollektiv.“

Sie diskutieren hin und her, kommen aber zu keinem Ergebnis. Clara muss los, Alice und David fangen an, über Nils im Internet zu recherchieren. Sein Wikipedia-Eintrag ist jüngst erweitert worden, die Darstellung der Belästigungsvorwürfe nimmt inzwischen fast ein Viertel der Seite ein. Immerhin, der Wikipedia-Artikel trägt den {{Neutralität}}-Baustein, d. h., die Aussagen sind nicht ordentlich belegt. Sie finden viele Vorwürfe gegen Nils von anonymen Personen, aber an anderen Stellen auch Unterstützerbriefe und sogar einige Personen, die mit ihrem vollem Namen dafür einstehen, dass die Vorwürfe gegen Nils lächerlich seien und nicht zutreffen würden. Etwaige Belege für die Vorwürfe werden angeführt, die sich aber hinter einer Paywall befinden, also nicht öffentlich zugänglich sind. Auch gibt es nicht einen einzigen Hinweis darauf, dass irgendwie rechtlich gegen Nils vorgegangen wird. Es sind eben Gerüchte, die aber durchaus plausibel klingen und zu Nils’ Auftreten auf der Tagung passen würden. Der Unterstützerkreis wiederum sieht eine Cybermobbing-Kampagne am Werk, die wenige Wochen vor einer geplanten Firmen-Übernahme von „Zúúber“ lanciert wurde. „Zúúber“ ist gerade bei Jugendlichen sehr populär, der Dienst besitzt also jede Menge privater Daten. Bei den Vorgesprächen vor der geplanten Übernahme stellte sich Nils als Einziger öffentlich vehement gegen die Bestrebungen, den Quellcode dann geheim weiterzuentwickeln. „Die Software ist und bleibt unter einer freien Lizenz“, bekräftigte er auf Quitter, „Eure Daten, Eure Kontrolle!“

Alice, David und die anderen gehen erstmal nach Hause, um darüber nachzudenken. Am nächsten Morgen ist der Fachschaftsraum besetzt mit mehreren Personen, die Transparente tragen. Die Protestierenden – unter ihnen auch Clara – fordern, dass Belästigern keinen Fußbreit Raum gegeben werden dürfe. Die Einladung sei ein Skandal und sofort rückgängig zu machen. Alice und David versuchen ihre Position darzustellen, werden aber nicht einmal gehört. Clara stellt klar: „Wenn der an unseren Campus kommt, gibt es eine zehnmal größere Demo, darauf könnt Ihr Euch verlassen.“

Alice und David ziehen sich in die Cafeteria zurück und fragen sich, was sie tun sollen. Die Veranstaltung durchführen wie geplant, gegen den Willen von Clara und anderen? Was sollen sie von den Gerüchten um Nils’ Vergangenheit halten? Sollen sie kleinbeigeben, um den Campusfrieden zu wahren, also Nils wieder ausladen?

Was würden Sie tun?

Fragen

  • War es in Ordnung von Alice, Nils im Alleingang einzuladen?
  • Sollte man Vorwürfe von Menschen Glauben oder auch nur Beachtung schenken, die diese unter einem Pseudonym abgeben?
  • Wenn es viele Gerüchte gibt, dann ist wohl etwas an der Sache dran, oder?
  • Ist es richtig, Informationen über das Privatleben einer Person auf einer Wikipedia-Seite niederzuschreiben, die ursprünglich wegen inhaltlicher Verdienste der Person angelegt wurde?
  • Müssen sich Personen, die sich öffentlich für eine gute Sache engagieren, tadellos benehmen?
  • Wie sollte man sich einer Person wie Nils gegenüber verhalten, wenn eine abschließende Bewertung der Vorwürfe nicht möglich ist?
  • Macht es einen Unterschied, ob es sich um einen Wissenschaftler bzw. Entwickler oder einen Politiker handelt?
  • Sollte das Privatleben eines Entwicklers einen Einfluss auf die Bewertung, das Verbreiten oder das Nutzen einer unbestritten nützlichen Software haben?
  • Welche Bedeutung hat das Privatleben des Entwicklers in Bezug auf den Software-Dienst bzw. die App generell?
  • Sollte das Privatleben von Nils einen Einfluss darauf haben, ob ihm eine öffentliche Bühne geboten wird?
  • In welchem Fall würden Sie das Interesse der Öffentlichkeit über die Persönlichkeitsrechte stellen?
  • Angenommen, Clara hätte am eigenen Leib erfahren, wozu Nils angeblich fähig ist, hätte sie sich als Betroffene „outen“ müssen, um ihr Argument zu stärken?
  • Ist es akzeptabel, dass die Professoren einfach „hämische“ Kommentare zu freier Software abgeben? Sollte man nicht erwarten, dass sie beide Positionen darstellen und ihre Meinung als solche darlegen?
  • Sollen freie und quelloffene Software Teil eines Informatik-Curriculums sein?
  • Ist der Druck, den Clara auf Alice und David ausübt, angemessen? Durfte sie zu einer Demonstration aufrufen, obwohl die Sitzung zu keinem Ergebnis kam?

Erschienen im Informatik-Spektrum 39(6), 2016, S. 484-485.


Dieses Fallbeispiel wurde auf dem Blog „Gewissensbits – Fallbeispiele zu Informatik und Ethik“ der GI-Fachgruppe Informatik und Ethik veröffentlicht: https://gewissensbits.gi.de/fallbeispiel-vergangenheit/. Dort können Sie auch alle weiteren Fallbeispiele nachlesen und kommentieren.