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Lexikon

Collaborative Interactive Learning

Von isoliert lernenden zu kollaborativinteraktiv lernenden Systemen

Bis vor einigen Jahren erfüllten Rechensysteme unterschiedlich komplexe Aufgaben, wobei ihnen relevante Beispieldaten zur Verfügung standen, sodass sie zur Laufzeit auf die vorgesehenen Aufgaben und Umgebungen festgelegt waren. Heutzutage erlauben Technologien, dass Systeme zunehmend in die Lage versetzt werden können, sich in unsicheren Umgebungen an neue Situationen zu adaptieren, sowie sich selber zur Laufzeit zu optimieren [12]. Aus diesem Grund werden diese Systeme oft als ,,intelligent“ oder ,,smart“ bezeichnet.

Zukünftig wird es immer mehr Anwendungen geben, in denen den technischen Systemen zur Entwicklungszeit die für einen Lern- und Optimierungsprozess benötigten Beispieldaten nicht oder nur teilweise zur Verfügung stehen. Die Gründe hierfür sind vielfältig, so können Systeme beispielsweise zur Laufzeit unvorhersehbaren Umgebungsbedingungen ausgesetzt sein oder die bereits annotierten Beispieldaten sind aufgrund von Datenschutzgründen nicht mehr verfügbar. Weitere mögliche Gründe sind der zeitliche Aufwand für den Lernprozess zur Entwicklungszeit oder finanzielle Kosten zur Bereitstellung der notwendigen Beispieldaten.

Neben diesen grundlegenden Überlegungen können wir feststellen, dass Systeme, die isoliert lernen, häufig nicht optimal lernen, da sie verfügbare Informations- und Wissensquellen außer Acht lassen. Andere ,,intelligente“ Systeme und Menschen haben zusätzliche Informationen über die Umgebung (z. B. gewonnen mit anderen Sensoren) oder sie haben bereits Wissen aus ihren Beobachtungen gewonnen (z. B. Verifizierung von Wissen durch andere Menschen). Deshalb benötigen wir eine neue Generation von Systemen mit neuartigen, lebenslangen Lernfähigkeiten, die wir im Folgenden als kollaborativ-interaktiv lernend (engl. collaborative interactive learning, CIL) bezeichnen. Solche CIL-Systeme sind

  • lernend in dem Sinn, dass sie in der Lage sind, ihre eigene Wissensbasis in einer selbstorganisierten Weise zu verbessern und diesen Prozess hinsichtlich der verwendeten Techniken zu optimieren,
  • kollaborativ in dem Sinn, dass dieser Lernprozess unter Einbeziehung von anderen intelligenten technischen Systemen und Menschen in einer wechselseitigen Art und Weise erfolgt und auf ein gemeinsames Ziel hin ausgerichtet ist sowie
  • interaktiv in dem Sinn, dass der Informationsund Wissensaustausch mit anderen intelligenten Systemen und Menschen in beide Richtungen erfolgt.

Zukünftige, auf CIL-Techniken basierende intelligente Systeme werden hochgradig autonom agieren, insbesondere hinsichtlich der folgenden Aspekte:

  • Sie bewerten ihr eigenes Wissen und identifizieren Wissensdefizite in Bezug auf neuartige Situationen in ihrer Umgebung.
  • Sie verbinden sich mit neuen Informationsund Wissensquellen und bestimmen, welche Informationen sie dort erhalten können.
  • Sie initiieren Kollaborationsschritte für den Erhalt von Informationen und Wissen, das sie für eine Optimierung ihres Verhaltens als fehlend oder unvollständig erkannt haben.
  • Sie bewerten die Qualität der Informations- oder Wissensquellen sowie die Qualität, Nützlichkeit, Relevanz und Sicherheit des erhaltenen Wissens.
  • Sie explorieren unterschiedlichste Mechanismen des maschinellen Lernens, um ihr eigenes Wissen zu verbessern [4] – z. B. Verfahren aus den Bereichen kollaboratives Lernen, semi-überwachtes Lernen, Transfer-Lernen, bestärkendes Lernen oder aktives Lernen (siehe [1]).

Ausgangsbasis für die Entwicklung von CIL-Techniken sind Verfahren aus den unterschiedlichsten Forschungsfeldern – Beispiele umfassen Autonomes Lernen [8], Kollektive Adaptive Systeme [10], Multi-Agenten-Systeme [13], Collaboration Engineering [11] und Organic/Autonomic Computing [12]. Um CIL-Systeme entwickeln zu können, muss allerdings mehr als nur die Kombination von existierenden Techniken aus diesen Gebieten erreicht werden – wir benötigen einen sozioinformatischen Ansatz, der die Kombination aus informatischem und sozialem System als komplexes System begreift.

Bisher haben wir die Begriffe ,,Informations-“ und ,,Wissensquelle“ genutzt, um unterschiedliche Arten der Informationsbeschaffung und Wissensgewinnung für den übergeordneten Lernprozess in einem CIL-System zusammenzufassen. Mögliche Quellen in diesem Sinne umfassen: (1) die eigene Sensorik des Systems für die Erfassung von Messwerten zur Bewertung des eigenen Verhaltens (z. B. für Erfolgsbewertung im Sinne des bestärkenden Lernens), (2) andere ,,intelligente“ Systeme mit den gleichen oder ähnlichen Aufgaben, (3) Menschen, die Bewertungen für Daten (Label), Konklusionen für Regeln oder Bestätigungen zur Verfügung stellen können, (4) das Internet mit seinen vielfältigen Datenquellen oder (5) Simulationssysteme, die genutzt werden können, um automatisiert Label zu erzeugen. Weiterhin können CIL-Systeme temporär nicht benötigtes, aber potenziell nützliches Wissen bereithalten (d. h. speichern), das als Basis beispielsweise für transduktive oder transferierende Lernprozesse dienen kann. Zur Laufzeit werden in unterschiedlichen Situationen dann verschiedene Konstellationen dieser Informationsund Wissensquellen verfügbar sein. Allerdings sind Informations- und Wissensgewinnungsprozesse auch mit Kosten unterschiedlicher Art (z. B. zeitlich, monetär) verbunden: Während ein Internetzugriff heutzutage relativ günstig zu erreichen ist, ist die Einbeziehung von Menschen relativ teuer (z. B. ausgedrückt in Arbeitsstunden). Daher muss ein CIL-System die beste Zugriffsstrategie auf solche Quellen unter Berücksichtigung der jeweiligen Kosten zur Laufzeit erlernen.

Lebenslanges Lernen in CIL-Systemen

Grundidee von CIL-Systemen ist es, ein autonomes, lebenslanges Lernen zu erreichen. Hierbei bezieht sich ,,lebenslang“ auf den vollständigen Lebenszyklus eines technischen Systems – von der Entwurfs- und Entwicklungszeit über den Betrieb bis zur Außerdienstsetzung. Dabei sind grundsätzlich offene Umgebungen zu berücksichtigen: (1) das Kollektiv der beteiligten Entitäten (Menschen, CIL-Systeme, etc.) ist heterogen, (2) die Anzahl der Entitäten ist möglicherweise groß und das Kollektiv dynamisch in dem Sinne, dass jederzeit neue Teilnehmende hinzukommen und andere das System verlassen können, (3) die Umgebung kann zeitvariant sein (d. h., ihre Eigenschaften verändern sich über die Zeit) oder (4) die Entitäten des Kollektivs haben unterschiedliche, zeitlich veränderliche Aufgaben zu erfüllen. Um sicherzustellen, dass intelligente CIL-Systeme grundsätzlich zielführendes Verhalten zeigen, müssen auch Mechanismen entwickelt werden, die das Verhalten solcher Systeme kontinuierlich analysieren und validieren, jegliches emergentes Verhalten identifizieren und anwendungsabhängig bestimmte Eigenschaften garantieren.

Das selbstorganisierte aktive Sammeln von Informationen und Wissen kann als erster Schritt von Kollaboration zwischen zwei oder mehr Systemen (sowie dem Menschen) verstanden werden. Zudem bieten CIL-Mechanismen neue Chancen, um kollaborative Systeme und neuartige Kollaborationsmechanismen mit und für Menschen zu entwickeln:

  • Kollektive intelligente Systeme können in die Lage versetzt werden, Probleme zu beherrschen, die einzelne Systeme isoliert nicht lösen können.
  • Menschen können von der ,,kollektiven Intelligenz“ aller beteiligten Systeme profitieren (d. h. der Kombination aus intelligenten Systemen, Menschen, Internet u. a.).
  • Kollaborationsprozesse von Menschen können aktiv unterstützt werden, indem intelligente Systeme die Bedürfnisse und Präferenzen der Menschen zusammen mit deren Wissen abschätzen und entsprechend (proaktiv) agieren.

CIL-Systeme erfordern auch geeignete MenschMaschine Schnittstellen, um die Systeme in die Lage zu versetzen, das Wissen von Menschen aktiv auszunutzen, den Menschen aktiv die notwendigen Informationen und Wissen zur Verfügung zu stellen, sowie den Nutzern die Möglichkeit zu bieten, nach spezifischem Wissen zu fragen. Folglich werden auch menschliche Lernprozesse erleichtert und unterstützt.

Grundsätzlich unterscheiden wir zwei CILBereiche:

  • Dedizierte CIL-Systeme (D-CIL) [5] umfassen klar definierte Lernprozesse (z. B. in einem Qualitätsprüfungsprozess eines Industrieumfeldes), die involvierten Menschen sind typischerweise Experten in ihrem jeweiligen Gebiet (möglicherweise mit unterschiedlichem Grad an Expertise), die Gruppe der Menschen ist relativ überschaubar und Kooperationsprozesse finden kontinuierlich über einen längeren Zeitraum statt.
  • Opportunistische CIL-Systeme (O-CIL) [3] fokussieren sich auf Kollaboration von intelligenten Systemen in offenen, heterogenen Kollektiven. CIL-Systeme nutzen alle möglichen Informationsund Wissensquellen, auch wenn diese unsicher oder nur sporadisch verfügbar sind. Die Zielsetzungen der Lernprozesse in solchen Systemen sind möglicherweise nicht vollständig spezifiziert und einzelne Ziele können zueinander im Konflikt stehen. Zudem sind Menschen nicht notwendigerweise als Experten hinsichtlich der Aufgabe der CIL-Systeme anzusehen.

Im Folgenden beschreiben wir zwei Anwendungsbeispiele, um die Ausrichtung von Forschungsbeiträgen zur Entwicklung und Beherrschung von Systemen in den Bereichen D-CIL und O-CIL zu erläutern.

Anwendungsbeispiel zu dedizierten CIL-Systemen

Als Erstes betrachten wir ein zukünftiges prädiktives Instandhaltungssystem (PIS) in einer Industrie-4.0- Umgebung. Unter [2] findet sich eine Beschreibung aktueller Anwendungsszenarien und Demonstratoren. Dieses PIS-System sammelt und analysiert z. B. Daten von unterschiedlichsten Sensoren in den Werkzeugen einer Produktionsanlage, siehe bspw. [9]. Auf Basis der gesammelten Daten werden Zustandsmodelle mittels numerischer Wissensrepräsentationstechniken erstellt. Diese Modelle ordnen Sensorsignale bestimmten Fehlern zu und werden genutzt, um Fehlervorhersagen tätigen zu können [6]. Das zukünftige CIL-basierte PIS ist in der Lage, sein eigenes Wissen zu bewerten und es kann menschliche Experten nach zusätzlichem Wissen für verdächtige Situationen oder nach zusätzlichen Beispielen für seltene Fehlerfälle fragen. Da die Expertise der einzelnen Experten nicht im Voraus bekannt ist, muss das kollektive Wissen der Experten zur Laufzeit exploriert und ausgeschöpft werden. D. h., es muss entschieden werden, wer, wann, wie und vor allem was gefragt werden soll. Dies bedeutet, dass das System neben dem eigenen Wissen auch das der einzelnen Experten modellieren muss, wobei dieses Problem noch komplexer wird, wenn das zugrunde liegende Problem zeitvariant ist (z. B. durch veränderliche Maschinenkonfigurationen oder Produktvarianten).

Anwendungsbeispiel zu opportunistischen CIL-Systemen

Als Zweites betrachten wir ein zukünftiges System zur akustischen Szenenerkennung (ASE) für gesundheitsfördernde Anwendungen. Allgegenwärtige Sensoren, wie z. B. in Millionen von Smartphones, werden genutzt, um kooperativ eine verteilte akustische Karte zu erstellen, auf deren Basis die individuelle Gefährdung eines Menschen 54 Informatik_Spektrum_41_1_2018 hinsichtlich von Erkrankungen wie z. B. Erkältungen prognostiziert werden kann. Ein solches ASE-System ist prototypisch bereits erforscht worden [7] und erlaubt eine hervorragende Abdeckung in stark bevölkerten Regionen, leidet aber unter der großen Variabilität der Daten (allgegenwärtige Zivilisationsgeräusche). Die ASE-App eines individuellen Nutzers wird initialisiert mit einem generischen Modell, das Sensordaten auf Risikobewertungen abbildet. Dieses Modell ist allerdings nicht personalisiert. Hierfür wird ein zukünftiges CIL-basiertes ASE-System semi-überwachte und aktive Lerntechniken nutzen, um die Geräusche des Nutzers und seiner Umgebung zu analysieren und zu bewerten. Auf dieser Basis wird das System seine eigenen Wissenslücken identifizieren und den Nutzer aktiv nach Bewertungen und Annotationen von Beobachtungen fragen – allerdings nur dann, wenn der Nutzer in seiner aktuellen Tätigkeit gestört werden darf. Solche Fragen könnten lauten: ,,Fühlst Du Dich heute krank?“ oder ,,Warst Du das, der sich mehrmals geräuspert hat?“ Zusätzlich wird die ASE-App Informationen von anderen intelligenten Geräten, die ebenfalls eine solche App betreiben, in Betracht ziehen – z. B. unter Verwendung geeigneter Mechanismen des Crowd-Sourcing. Als Ergebnis kann diese APP den Gesundheits- und Gefährdungszustand des Nutzers einschätzen und proaktiv zu Schutzmaßnahmen anleiten.

Forschungsziele und Ausblick

Der Begriff ,,kollaborativ interaktiv lernende Systeme“ beschreibt ein im Entstehen befindliches Forschungsgebiet. Beschreibungen zu aktuellen Use Cases für CIL-Systeme finden sich bspw. in [5], [3] und [4]. Um CIL-Systeme zu entwickeln und zu beherrschen, sind neuartige Mechanismen zur Informations- und Wissensgewinnung sowie -analyse und -bewertung notwendig. Dabei liegt der Fokus auf einem kollaborativen Ansatz, der auch Menschen und andere externe Quellen wie Internet oder Simulationssysteme mit einbezieht. Die Suche nach Lösungen stützt sich auf Beiträge aus unterschiedlichen Forschungsfeldern. Neben weiterführenden Fragestellungen wie Sicherheit, Software Engineering oder Psychologie stehen zunächst insbesondere Beiträge aus den Bereichen Wissensmanagement, Autonomes Lernen, Aktives Lernen, Crowd Sourcing, Collaboration Engineering, Mensch-Maschine-Schnittstellen und Analyse komplexer adaptiver Systeme im Fokus der Überlegungen.

Literatur

  1. Alpaydin E (2016) Machine Learning: The New AI, 1. Aufl. MIT Press Essential Knowledge
  2. Anderl R (2015) Industrie 4.0 – technological approaches, use cases, and implementation. Automatisierungstechnik 63(10):753–765
  3. Bahle G, Calma A, Leimeister JM, Lukowicz P, Oeste-Reiß S, Reitmaier T, Schmidt A, Sick B, Stumme G, Zweig KA (2016) Lifelong Learning and Collaboration of Smart Technical Systems in Open-Ended Environments – Opportunistic Collaborative Interactive Learning. In: IEEE International Conference on Autonomic Computing, pp 315–324
  4. Calma A, Kottke D, Sick B, Tomforde S (2017) Learning to Learn: Dynamic Runtime Exploitation of Various Knowledge Sources and Machine Learning Paradigms. In: 2nd IEEE International Workshops on Foundations and Applications of Self* Systems, Tucson, AZ, USA, September 18–22, 2017. IEEE Computer Society, pp 109–116
  5. Calma A, Leimeister JM, Lukowicz P, Oeste-Reiß S, Reitmaier T, Schmidt A, Sick B, Stumme G, Zweig KA (2016) From active learning to dedicated collaborative interactive learning. In: International Conference on Architecture of Computing Systems, pp 1–8
  6. Cruz Garcia M, Sanz-Bobi MA, del Pico J (2006) SIMAP: Intelligent system for predictive maintenance: application to the health condition monitoring of a windturbine gearbox. Comput Ind 57(6):552–568
  7. Gravenhorst F, Muaremi A, Bardram JE, Grünerbl A, Mayora O, Wurzer G, Frost M, Osmani V, Arnrich B, Lukowicz P, Tröster G (2015) Mobile phones as medical devices in mental disorder treatment: an overview. Pers Ubiquitous Comput 19(2):335–353
  8. Hammer B, Toussaint M (2015) Special Issue of Autonomous Learning. Künstl Intell 29:323–327
  9. Huber D, Kaiser T (2017) Wie das Internet der Dinge neue Geschäftsmodelle ermöglicht. In: Industrie 4.0: Herausforderungen, Konzepte und Praxisbeispiele. Springer Fachmedien, Wiesbaden, S 17–27
  10. Kernbach S, Schmickl T, Timmis J (2011) Collective adaptive systems: challenges beyond evolvability. In: ACM Computing Research Repository (CoRR)
  11. Leimeister JM (Hrsg) (2014) Collaboration Engineering – It-gestützte Zusammenarbeitsprozesse systematisch entwickeln und durchführen. Springer Gabler, Berlin Heidelberg
  12. Müller-Schloer C, Tomforde S (2017) Organic Computing – Technical Systems for Survival in the Real World. Birkhäuser Verlag, Basel
  13. Wooldridge M (2009) An Introduction to MultiAgent Systems. Wiley, New York

Autoren und Copyright

Bernhard Sick
Institute for System Analytics and Control
Universität Kassel
Kassel

Sarah Oeste-Reiß
Information Systems Group
Universität Kassel
Kassel

Albrecht Schmidt
Human-Centred Ubiquitous Media Group
LMU München
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Sven Tomforde
Intelligent Embedded Systems Group 
Universität Kassel
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Anna Katharina Zweig
Algorithmic Accountability Group 
Universität Kaiserslautern
Kaiserslautern

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